„Smart Living Service Design muss aus technischem und wirtschaftlichem Blickwinkel beleuchtet werden.“

Prof. Dr. Oliver Hinz, ForeSight-Teilprojektleiter für Generische Use Cases und Professor für Wirtschaftsinformatik und Informationsmanagement an der Goethe-Universität Frankfurt, spricht über die verschiedenen Blickwinkel auf Smart Living Services, die Chancen der entwickelten Use Cases für die Praxis und darüber, welche Rolle die in ForeSight erarbeiteten Basisservices spielen.

Herr Prof. Dr. Hinz, in Ihren Forschungsvorhaben an der Goethe-Universität Frankfurt lösen Sie und Ihr Team praxisrelevante Fragestellungen im Projekt ForeSight mit den Werkzeugen der Wirtschaftsinformatik. Können Sie uns die Methodiken im Zusammenhang mit Smart Living Services kurz erklären?

Smart Living Service Design darf nicht nur aus technischem, sondern muss immer auch aus wirtschaftlichem Blickwinkel beleuchtet werden. Nur so können wir uns den verschiedenen einzigartigen Herausforderungen stellen und innovative Lösungen entwickeln, die auch einen erfolgreichen Wirtschaftstransfer gewährleisten. In diesem Zusammenhang ist beispielsweise die Geschäftsmodell-Modellierung elementar. Damit sorgen wir nicht nur für exzellente Forschungsergebnisse, sondern auch für Nachhaltigkeit und einen zielgruppengenauen Transfer in die Praxis. Die interdisziplinäre Arbeit bildet also einen wesentlichen Erfolgsfaktor. Durch das Zusammenspiel der siebzehn Konsortialpartner aus Industrie und Forschung entstehen maßgeschneiderte Lösungen für unsere Zielgruppen der Wohnungswirtschaft, Elektroindustrie, Digitalwirtschaft, Technologieunternehmen für Gebäude, aber auch für Verbände, die Wissenschaft und das Handwerk. Unterstützt werden wir dabei auch noch von unseren knapp 50 assoziierten Partnern. Nur in Kombination mit diesen innovativen Ansätzen aus Forschung und Industrie können praxisnahe Use Cases aus den Bereichen „Smarte Gebäudebewirtschaftung“, „Smartes Energiemanagement“, „Intelligenter Gebäudepförtner“ und „Smarte Assistenz“ entstehen, die am Ende in der ForeSight-Plattform für kontextsensitive, intelligente und vorausschauende Smart Living Services zusammenfließen.

Bei ForeSight zeichnen Sie als Teilprojektleiter für das Thema „Generische Use Cases“ verantwortlich. Welche Anwendungsfälle werden im Rahmen des Forschungsprojekts genau durchleuchtet?

Im Rahmen der „Generischen Use Cases“ verfolgen wir unterschiedliche Ansätze und decken vielfältige Anwendungsfelder künftiger Smart Living Services ab. Im Bereich „Software-definierte Sensoren“ setzen wir verschiedene Anwendungsfälle um, die vor allem eine Aktivitäts- und Kontexterkennung sowie eine Notlagenerkennung vorsehen. Im Themenfeld des „Smarten Energiemanagements“ forschen wir an den Möglichkeiten, Energieverbräuche nachvollziehbar zu gestalten und so einen bewussteren Umgang zu ermöglichen. Aktuell beschäftigen wir uns hier mit den Use Cases der Energiedaten-Desaggregation und des CO2-Fußabdrucks. In diesem Zusammenhang wird auch die Anbindung EEBUS-fähiger Endgeräte erprobt, um unsere Vision eines netzdienlichen Hauses zukunftsfähig zu gestalten. Im Rahmen des „Intelligenten Gebäudepförtners“ erarbeiten wir einen schlüssellosen barrierefreien Zugang zu einem Gebäude. In diesem Zusammenhang werden verschiedene Use Cases, wie der Zugang in Notfallsituationen oder die neuen Möglichkeiten einer smarten Gebäudebewirtschaftung wie die Autorisierung für Dienstleistungsunternehmen umgesetzt. Aber auch ein Wechsel der Mietparteien oder das Eintreffen einer intelligenten Lieferung hinter die Wohnungstür lassen sich damit abbilden. Im Use Case der „Smarten Gebäudebewirtschaftung“ beschäftigen wir uns mit den Themen der Automated bzw. Predictive Maintenance. So können Beschädigungen an einer Außenanlage wie PV Anlagen durch automatisch aufsteigende Drohnen erkannt werden. Aber auch Themen wie eine Leckage-Erkennung oder eine gegenseitige Kontrolle von Sensorik und Versorgungstechnik werden hier umgesetzt. Die hier erreichten Ergebnisse sollen dann später alle visualisiert in einem Maintenance Dashboard für die Gebäudeüberwachung zusammenfließen. Im Kontext der Gebäudebewirtschaftung ist auch noch der Use Case eines Gewerke übergreifenden Smart Service Marktplatzes geplant, um so die verschiedenen Smart Living Services auf einer Plattform zusammenführen zu können. Zu guter Letzt bilden wir im Rahmen der generischen Use Cases auch den Bereich der „Smarten Assistenz“ ab. Hier geht es zum einen um Assisted Living, also um Notfallerkennung, Aktivitätsprofile und Empfehlungen und zum anderen um Smart Kitchen, einer Assistenz im Küchenumfeld.

Die Energiedaten-Desaggregation ist ein sehr interessantes Thema, denn seit dem Start des Rollouts von Smart Metern in Deutschland durch das Messstellenbetriebsgesetz werden zunehmend mehr Häuser für die Fernauslese ausgestattet.

Ein praxisnahes Anwendungsbeispiel ist das Thema Energiedaten-Desaggregation. Welches Szenario wird hier genau durchgespielt?

Die Energiedaten-Desaggregation ist ein sehr interessantes Thema, denn seit dem Start des Rollouts von Smart Metern in Deutschland durch das Messstellenbetriebsgesetz werden zunehmend mehr Häuser für die Fernauslese ausgestattet.  Eine Voraussetzung zur Reduzierung des Energieverbrauchs ist dabei der bewusste Umgang mit Energie, das bedeutet, dass auch das Verhalten der einzelnen Verbraucher*innen immer mehr gefragt ist und die einzelnen Haushalte gerade im Zuge des Klimawandels einen wertvollen Beitrag leisten können. In der Energiedaten-Desaggregation sehen wir großes Potential, da damit auf Basis aggregierter Smart Meter Daten mehr Transparenz über die energetische Nutzung einzelner Haushaltsgeräte möglich wird und Energiekosten sowie Stromverbräuche auf diesem Weg gesenkt werden können. Konkret schauen wir uns die aggregierten Verbrauchsdaten von Häusern und Wohnungen an und versuchen dort durch den Einsatz verschiedener Modelle und Techniken, wie beispielsweise Self-Learning, eine Desaggregation auf die einzelnen Verbraucher*innen, das heißt beispielsweise den Stromverbrauch der Waschmaschine oder Spülmaschine, zu ermöglichen. Die durch das Smart Meter erfassten Daten werden dann an die ForeSight-Cloud-Plattform weitergeleitet und dort analysiert. Diese desaggregierten Verbräuche können die Bewohnenden dann beispielsweise über ein effizientes Energiemanagementsystem einsehen, und ihren Energieverbrauch direkt nachvollziehen. Über Handlungsempfehlungen könnte so das Verhalten spezifisch angepasst werden, um beispielsweise den CO²-Fußabdruck zu reduzieren und den eigenen am Tag produzierten PV Strom ideal zu nutzen. Auch für Wohnungsunternehmen gibt die Energiedaten-Desaggregation wertvolle Hinweise für die CO²-Regulationen ihrer Gebäude.

Die Use Cases sollen der Zielgruppe nicht nur die Inhalte des Projektes näherbringen, sondern auch wesentliche, smarte Basisservices erforschen, die wiederum als Methoden bzw. einzelne Dienste in der ForeSight-Plattform zur Verfügung gestellt werden können. Welche technischen Komponenten spielen dabei eine Rolle?

Die smarten Basisservices schlagen eine sehr wichtige Brücke zu einem erfolgreichen Transfer in die Praxis. Denn die Basisservices dienen in der Regel dazu, alle im Rahmen von ForeSight erhobenen Daten und ihre komplexen Zusammenhänge abzubilden. Hier haben wir insbesondere auch in der methodischen Entwicklung viele Fortschritte gemacht und auch einige spannende Ergebnisse vorzuweisen. Den Smart Services kommen in diesem Zusammenhang verschiedene Aufgaben zu, die wir ein bisschen differenzieren müssen. Einerseits realisieren wir mit den Smart Services bestimmte Funktionen, die in vielen Use Cases Anwendung finden, wie beispielsweise in der ausführlich dargestellten Energiedaten-Desaggregation. Andererseits schaffen wir mit Hilfe der entwickelten Smart Services auch auf einer sehr hohen Ebene neues und wertvolles Wissen, das sich zum Beispiel in der Präsenz- und Aktivitätenerkennung oder auch in Bezug auf Notlagen widerspiegelt. Bei der technischen Umsetzung nimmt die ForeSight-Plattform eine entscheidende Rolle ein. So ist auf der Plattform beispielsweise ein Identitäts- und Zugriffsmanagement entstanden, welches es den Bewohnenden ermöglicht, den Zugriff bis auf einzelne Eigenschaften der Thinking Objects für Services und Service-Anbieter zu berechtigen. Dieses Zugriffsmanagement ist damit auch essenzieller Bestandteil jedes Smart Services, der auf der Plattform entwickelt wird. Für die Nutzerperspektive bietet die ForeSight-Plattform damit einen echten Mehrwert.

Die smarten Basisservices schlagen eine sehr wichtige Brücke zu einem erfolgreichen Transfer in die Praxis.

Bei der Erforschung der praxisnahen Use Cases spielt die Nutzerperspektive eine bedeutende Rolle. Wie stellen Sie sicher, dass die Anforderungen an die Smart Living Services bei der Entwicklung Berücksichtigung finden?

Die Nutzerperspektive muss von Anfang an mitgedacht werden. Deshalb wurden bei ForeSight bereits bei der Konzeptionierung der verschiedenen Smart Living Services die Nutzerrollen aufgenommen und berücksichtigt und sind auch direkt in das Design mit eingeflossen. Um die Akzeptanz der Nutzerperspektive in die KI-Systeme zu jedem Zeitpunkt sicherzustellen, ist aktuell auch eine Akzeptanzstudie in Planung, um über Interviews die Bedürfnisse der möglichen Endanwender*innen abzufragen.  Die Ergebnisse fließen dann aktiv in die weitere Entwicklung der Use Cases ein. Ganz spannend ist in diesem Zusammenhang auch die Zusammenarbeit der verschiedenen Arbeitsgruppen im Projekt. 

Die ELSI Anforderungen bilden eine wichtige Grundlage für die erfolgreiche Umsetzung der Smarten Services im Kontext der ForeSight- Plattform.

Beispielhaft ist hier der bereits bekannte Use Case des Intelligenten Gebäudepförtners zu nennen. Der Anwendungsfall wurde bereits auf dem Digitalgipfel präsentiert und übertraf damit seine selbstgesteckten Ziele. Bei der weiteren Umsetzung geht es nun darum, die ELSI-Anforderungen bei der Entwicklung neuer KI-Services zu berücksichtigen. So bezieht der Use Case im Bereich der Gesichtserkennung alle denkbaren Nutzergruppen ein, um eine Nicht-Diskriminierung zu gewährleisten. Alle potenziell diskriminierende KI-Komponenten können somit frühzeitig aufgedeckt und durch ein Neutraining der Datensätze verhindert werden.  Dies ist entscheidend, da wir so auch eine wichtige Grundlage für die Verifikation der Smarten Services im Kontext der ForeSight-Plattform legen.

Vielen Dank, Herr Prof. Dr. Hinz für das Gespräch und die spannenden Einblicke. Wir sind gespannt auf die weitere Entwicklung und die Ergebnisse der einzelnen Use Cases.

 

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